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Frank Wedekind
FRÜHLINGS ERWACHEN

Premiere: 27. September 2008, TASCH 1

Fotos link

Besetzung:
Inszenierung und Bühnenbild
Kostüme -
Dramaturgie -

Inspizienz -
Regieassistenz -
Soufflage -
Peter Radestock
Eva-Constanze Nau
Annelene Scherbaum

Ito Grabosch
Janina Wolf
Bernd Kruse
FRÜHLINGS ERWACHEN

Darsteller:
Frau Bergmann - Franziska Knetsch | Wendla Bergmann, ihre Tochter - Sophia Heyrichs | Frau Gabor - Uta Eisold | Herr Gabor - Peter Meyer | Melchior, ihr Sohn - Johannes Grabowski | Rentier Stiefel - Stefan Piskorz | Moritz Stiefel, sein Sohn - Nick Sternitzke | Hänschen Rilow - Fabio Braun-Carrasco | Ernst Robel - Simon Hönig | Otto - Martin Wöllenstein | Georg - Pedro Hafermann | Robert - Jakob Lewin | Thea - Katharina Kutsch | Martha - Mona Rieken | Ilse - Franziska Endres | Rektor Sonnenstich - Thomas Streibig | Pastor Kahlbauch - Bernd Kruse | Ziegenmelker - Daniel Sempf | Onkel Probst - Nicolas Deutscher | Ein vermummter Herr - Michael Köckritz


In einer deutschen Stadt um 1890. Die drei Jugendlichen Melchior, Moritz und Wendla möchten gern mehr über Sexualität erfahren. Aber allein Melchior, von einer Mutter mit liberalen Ansichten erzogen, schafft es, sich angstfrei mit den Geheimnissen der Liebe vertraut zu machen.
Um seinen gehemmten und darüber hinaus versetzungsgefährdeten Klassenkameraden Moritz von seinen quälenden Grübeleien und sexuellen Unsicherheiten zu befreien, steckt er ihm eine selbstverfasste Aufklärungsschrift zu. Moritz wird jedoch durch die Lektüre noch weiter verstört, und als er infolge seiner nachlassenden schulischen Leistungen nicht versetzt wird, nimmt er sich das Leben.
Zwischen Melchior und Wendla ist es zu einem sexuellen Kontakt gekommen. Das ahnungslose Mädchen wird schwanger und stirbt schließlich an einem von der Mutter veranlassten Abtreibungsversuch.
Melchior, der wegen seiner Aufklärungsschrift der Schule verwiesen und in eine Erziehungsanstalt gesteckt worden war, fl ieht nun heimlich zu den Gräbern von Wendla und Moritz...


Pressestimmen

Oberhessische Presse

Projekt mit Laiendarstellern darf als Erfolg gewertet werden

Marburg. Mit einer über weite Strecken gelungenen Premiere endete am Samstag das Abenteuer des Landestheaters, die Tragödie „Frühlings Erwachen“ überwiegend mit Laiendarstellern aufzuführen.

von Gabriele Neumann

Am Anfang hat sich wenig geändert, seit Frank Wedekind 1891 „Frühlings Erwachen“ schrieb. Jugendliche Schüler tauschen sich, mal altklug, mal albern über den Schulstoff aus, und über manches, das darüber hinaus geht und sie weit mehr interessiert als Latein und Mathematik: das Erwachsenwerden. In einem setzkastenartigen Bühnenbild platziert Regisseur Peter Radestock die jugendlichen Laiendarsteller, die die zweistündige Inszenierung bestimmen. Vor pastellfarbenen Wänden parlieren Moritz Stiefel (Nick Sternitzke) und Melchior Gabor (Johannes Grabowski) über die Versetzung und die Fortpflanzung. Moritz wäre gerne Musterschüler – was auch sein Äußeres mit Karo-Pullunder und Kniebundhose spiegelt, ist aber vom Sitzenbleiben bedroht. Melchior ist Musterschüler, gibt aber betont den lässigen Bohemien im hellen Leinenanzug. Die 14-jährige Wendla (Sophia Heyrichs), die Melchior heimlich anhimmelt, wird von ihrer Mutter an der Schwelle zum Erwachsenenleben mit Geschichten über den Storch abgespeist. Diese Szene gehört zu den eindringlichsten der Inszenierung, weil sieauthentisch ist. Zwar sind Storch-Geschichten heute kaum noch im elterlichen Aufklärungs-Repertoire zu finden, aber „Das-verstehst-du-nicht“-Geschichten schon, und dagegen begehren Jugendliche zu Recht auf. Diese Botschaft Wedekinds, dass aus Unwissenheit weit mehr Unheil erwachsen kann als aus ehrlicher Aufklärung, vor allem diese Botschaft transportiert Radestock mit den jungen Darstellern.



marburg news

Jugendliche brachten Wedekind auf die Bühne

"Wie kommen wir in diese Welt?" Diese Frage stellen sich mehrere Jugendliche in Frank Wedekinds Bühnenstück "Frühlingserwachen". In der Inszenierung von Peter Radestock feierte das Drama über die Probleme junger Leute beim Erwachsen-Werden am Samstag (27. September) im ausverkauften Theater am Schwanhof (TaSch 1) Premiere. Die jugendlichen Hauptrollen hatte Radestock mit Schülerinnen und Schülern besetzt. Vor allem sie bewiesen am Samstagabend erstaunliches Talent. Als Melchior Gabor überzeugte der 16-jährige Schüler Johannes Grabowski von der Elisabethschule Marburg. Gravierende Unterschiede zwischen seinem Spiel und dem der Profis aus dem Ensemble des Hessischen Landestheaters (HLTh) waren am Premieren-Abend kaum zu bemerken. Ähnliches gilt auch für Sophia Heyrichs in der Rolle der Wendla Bergmann. Die 18-jährige Schülerin besucht ebenfalls die Elisabethschule. Melchiors Kameraden Moritz Stiefel spielte der 16-jährige Nick Sternitzke nicht weniger überzeugend. Er besucht die Gesamtschule Ebsdorfergrund. Gegen diese drei Jugendlichen konten die meisten erfahrenen Mitspieler kaum ankommen, was allerdings auch an der vergleichsweisen Kürze ihrer Auftritte lag. Lediglich Franziska Knetsch als Wendlas Mutter Frau Bergmann und Uta Eisold als Melchiors Mutter Fanny Gabor sowie Franziska Endress als die Prostituierte Ilse stachen mit ihren darstellerischen Leistungen deutlich heraus. Vor allem vor der Pause beeindruckten das Stück und die schauspielerischen Leistungen der Akteure. Sie bewegten sich in einem Bühnenbild, das sechs Räume vorstellte, in denen die Darsteller die Handlung vorantrieben. Voneinander getrennt wurden die einzelnen Szenen immer wieder durch kurze Musik-Schnipsel aus dem "Frühling" in Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten". Diese Musik verstärkte die Dramatik der Handlung. Moritz Stiefel fürchtet, dass er nicht versetzt werden wird. Er und sein Schulkamerad Melchior Gabor diskutieren über die Sexualität und die seltsamen Gefühle, die die jungen Männer seit dem Beginn ihrer Pubertät empfinden. Moritz bittet Melchior, ihm alles zu erklären. Doch solle er es am besten schriftlich tun. Melchior erfüllt seinem Freund diese Bitte. Melchior trifft die 14-jährige Wendla Bergmann. Sie unterstützt arme Mitmenschen. Das mache ihr Freude, erklärt sie. Melchior hält diese Art von Hilfe für eine verkappte Form von Eigennutz. Wendla erklärt ihm, sie wisse gar nicht, was Leid ist. Dergleichen habe sie noch nie am eigenen Leib erfahren. Deshalb bittet sie den Jungen, sie mit einer Gerte zu schlagen. Auf dem Heuboden fällt Melchior schließlich über Wendla her. Sie sträubt sich. Doch es kommt zum Sex. Aus Furcht vor der drohenden Blamage wegen seiner schlechten schulischen Leistungen erschießt sich Moritz. Melchiors Erklärungen werden bei dem Toten gefunden. Melchiors Vater schickt seinen Sohn daraufhin ins Erziehungsheim. Melchiors Mutter Fanny willigt erst ein, als sie erfährt, dass die 15-jährige Wendla von ihrem Sohn schwanger ist. Wendla stirbt ebenfalls. Melchior macht sich nun bittere Vorwürfe, er sei am Tod der beiden mitschuldig. In der Schluss-Szene kippt Wedekinds Stück um in ein Gespräch des sterbewilligen Melchior mit dem Geist von Moritz und einer weiteren seltsamen Gestalt. Diese Szene hat schon der Autor verhunzt. Doch Radestock steigert diese Skurilität noch ins Lächerliche, indem er die beiden Geister wie Gestalten bei einer Haloween-Party mit dem Kopf unter dem Arm auftreten lässt. Besonders grässlich ist ihre durch elektronische Modulation verzerrte Sprache. Möglicherweise wollte Radestock mit dieser Art der Inszenierung die Schwäche der Vorlage überhöhen und so karikieren. Das ist ihm jedoch gründlich misslungen. Vielmehr raubt der Schluss so dem gesamten Stück nachträglich seine Ernsthaftigkeit und seinen Tiefgang. Wedekinds Kritik an einer verlogenen Pseudo-Moral und der sexuellen Engstirnigkeit seiner Epoche ist auch heute noch zeitgemäß. Sein Aufbegehren gegen eine punitive Erziehung durch Härte und gegen das Ausklammern der Sexualität aus dem bürgerlichen Alltag hat Radestock im ersten Teil vor und in den Szenen unmittelbar nach der Pause sehr adäquat auf die Bühne gebracht. Leider endet das Ganze dann jedoch in einer misslungenen Cyber-Show. Doch allein schon die darstellerischen Leistungen der jungen Akteure lohnen einen Besuch trotzdem. Zu Recht spendete das Premieren-Publikum ihnen am Ende langanhaltenden und begeisterten Applaus und einige "Bravo"-Rufe.

Franz-Josef Hanke - 28.09.2008



Marburger Forum

Die erste Szene zeigt bereits schlaglichtartig auf, worum es in Wedekinds Stück Frühlings Erwachen geht. „Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?“, fragt Wendla und Frau Bergmann erwidert: „Du wirst vierzehn Jahre heute! […] Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzesskleidchen einhergehen.“ Im folgenden Dialog zwischen Mutter und Tochter über das lange graue – wie könnte es eine andere Farbe sein? – Kleid lässt Wendla erkennen, dass sie nicht mehr ein Kind ist, weiß aber nicht, warum sie sich anders kleiden und geben soll. Die Mutter verweigert ihr jede ehrliche Antwort und Erklärung. „Aber es geht ja nicht, Kind! – Ich kann es ja nicht verantworten“, wird sie in einer anderen Szene Wendla entgegnen, die von ihr wissen will, wie Kinder gezeugt und geboren werden, denn an die Mär vom Storch kann auch die Vierzehnjährige nicht mehr glauben. „Um ein Kind zu bekommen, muss man den Mann – mit dem man verheiratet ist … lieben – lieben – lieben sag ich dir. – Man muss ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst. Jetzt weißt du´s.“ In ihrer Prüderie und Hilflosigkeit rettet sich die Mutter in Allgemeinplätze, die – Franziska Knetsch spielt die Rolle der Mutter überzeugend – unfreiwillig komisch und frivol-anzüglich klingen. Frau Bergmann will die Anzeichen pubertärer Entwicklung und fraulicher Reife nicht wahrhaben und spürt nicht, in welcher seelischen Notlage sich ihre Tochter befindet.

Gibt es für diese Art von Problematik – die Unaufgeklärtheit und Weltfremdheit Wendlas werden von Wedekind auch an den Figuren der vierzehnjährigen Jungen „durchgespielt“ – heutzutage, im Zeitalter medialer Überinformation und sexueller Aufgeschlossenheit und sexueller Reize, noch ein Interesse? Wahrscheinlich schon, wenn man von der Beliebtheit des Stücks Frühlings Erwachen als Schullektüre hört oder zur Kenntnis nimmt, wie oft das Stück an Theatern inszeniert wird, oder von minderjährigen Schwangeren oder Aussagen von jungen Erwachsenen liest, die von Aufklärung durch die Eltern nichts wissen. Und dennoch: Dem Stück aus dem Jahr 1891, als die Veröffentlichung einem Skandal gleichkam, haftet etwas Antiquiertes und Verschrobenes an. Es kann auf der Bühne leicht zu einem „Aufklärungskampagne“-Text werden und dann sicherlich eher Kopfschütteln und Desinteresse hervorrufen.

Der Regisseur der HLTH-Aufführung, Peter Radestock, und sein Leitungsteam Annelene Scherbaum (Dramaturgie) und Eva-Constanze Nau (Kostüme) entgehen den Fallstricken, die das Stück bereithält, bravourös. Schon das Bühnenbild, für das auch Peter Radestock verantwortlich zeichnet, macht deutlich, dass der Regisseur Frühlings Erwachen wie ein Ausstellungsobjekt behandelt. Radestock hat auf zwei Ebenen jeweils drei leere kastenartige Räume, die nach vorne offen sind, bauen lassen. Der Aufbau sieht weniger wie ein Haus mit Zimmern, sondern wie jeweils drei übereinanderliegende „Zimmerguckkästen“ aus. Die Figuren treten in diesen „Zimmern“ auf, sprechen miteinander – die Zimmer sind durch Öffnungen verbunden –, reden aber auch, als sprächen sie aneinander vorbei, direkt zum Publikum. Sie stellen sich buchstäblich aus. Radestock macht, ganz im Sinne Wedekinds, der darin ein Vorläufer Brechts ist, aus der Aufführung „Zeigetheater“, das jede allzu große Nähe zwischen Zuschauerraum und Bühne verweigert und das Bühnengeschehen zum Beobachtungsgegenstand macht. Dem Zuschauer wird vorgeführt, wie Kommunikationslosigkeit und Lieblosigkeit zwischen Eltern und Kindern, zwischen Erwachsenen und den Jugendlichen, für die sie Verantwortung tragen, zu Einsamkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen, zu Verlassenheit, seelischer Not, zu Ausweglosigkeit und zu ihrem Tod. Die Szenen in den verschiedenen Räumen, die sich in Einzelbilder auflösen und durch kurze dramatische Musikeinspielungen von einander getrennt oder miteinander verbunden werden, wie immer man das sehen will, erzeugen eine nachhaltige Wirkung, ohne auch nur im geringsten zu überheblichen Blicken auf ein Verhalten von jungen Menschen zu führen, das im Jahr 2008 vorschnell belächelt werden könnte. – Die blassen „Bonbonfarben“ der einzelnen Räume unterlaufen mit leichter Ironisierung das, was auf der Bühne an Dramatischem abläuft. Sie stellen eine Künstlichkeit her, die das „Zeigetheater“ auf verstärkt, besonders eindringlich übrigens in den Szenen am Anfang und am Schluss, in denen alle Guckkästen von Figuren besetzt sind, die Aufführung zu einer „Ausstellung“ wird.

Dass der Zuschauer ein fernes, fast fremdes Geschehen beobachtet, wird auch durch die Kostüme der zehnköpfigen Gruppe der Jugendlichen verstärkt. Sie tragen Kniebundhosen, Mützen, Anzüge und Kleider, die aus den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen könnten. So war es einmal, heißt die Botschaft des Regisseurs. Und der Zuschauer ist aufgefordert zu fragen und zu beurteilen, ob und inwieweit seine eigenen Erfahrungen und seine Weltsicht sich in Wedekinds Kindheitstragödie spiegeln.

Dass die Welt, die Radestock auf der Bühne entfaltet, höchst brisant ist, kann kaum geleugnet werden. Wie zwangsläufig rollt vor den Augen der Zuschauer nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip ein Geschehen ab, das tragische Dimensionen entfaltet. Radestock hat es verstanden, das provozierende Aufklärungsstück, das es vielleicht vor hundert Jahren vor allem war, in eine auch heute noch erschütternde Tragödie überzuführen. Die Konsequenz, mit der das in manchem ausufernde Stück auf die Kernszenen und Kerndialoge reduziert wurde, ist beeindruckend. Die Schlussszene zwischen Frau Bergamann und ihrer Tochter mag dafür ein Beispiel sein. Beide wissen, dass Wendla schwanger ist. „Oh, warum hast du mir das getan?“ jammert die Mutter egoistisch und auch heuchlerisch. Sie löffelt ihrer Tochter ein Mittel gegen „Bleichsucht“ ein und sieht dann – hilflos, aber unbarmherzig – zu, wie Wendla ihr die Medizinflasche aus der Hand nimmt und die ganze Flasche leertrinkt: Sie bringt sich um. In wenigen Sätzen und in einem einzigen Bild wird vorgeführt, worum es in dem Stück geht: die Gnadenlosigkeit einer leeren Ordnung, einer unmenschlichen Konvention, denen am Ende – und keiner ist da, der den Lauf der mörderischen Welt aufhalten kann oder will – Kinder und junge Erwachsene zum Opfer fallen.

In den Szenen mit den Erwachsenen, der Beerdigungsszene von Moritz etwa, wird die Gnadenlosigkeit der Erwachsenenwelt oder, wenn man so will, der Gesellschaft überhaupt mit scharfem Sarkasmus gezeigt. Die satirischen Erwachsenen-Szenen bilden einen Kontrast zu den Szenen mit den Jugendlichen, die der Regisseur ernsthaft spielen lässt. Radestock hat gerade die szenische „Wortkargheit“ und Verknappung in dieser Inszenierung zu großer Wirkung geführt. Dass die Schlussszene mit Melchior und Moritz´ Geist und dem vermummten Herrn durch die Verkleidungen, den Bühnennebel und die verdrehten, schrillen Stimmen aus dem Rahmen der Inszenierung mit sparsamen Mitteln herausfällt und einen etwas eigenartigen Akzent setzt, ist eigentlich überflüssig.

Hervorzuheben sind die zehn Laienschauspielerinnen und Laienschauspieler in den Rollen der Kinder und Jugendlichen, vierzehn bis neunzehn Jahre alt alle, Schülerinnen und Schüler noch, die einen erheblichen Anteil am Premierenerfolg der Aufführung haben. Die 18 Jahre alte Sophia Heyrichs spielt die Wendla als Heranwachsende auf der Suche nach Antworten für das, was sie nicht versteht, überzeugend. Der 16 Jahre alte Johannes Grabowski spielt den scheinbar lebensstarken und überlegenen Melchior und der 16jährige Nick Sternitzke ist Moritz Stiefel mit all seinen Unsicherheiten und dem Leistungsdruck, dem die Figur durch Elternhaus und Schule ausgesetzt ist. Sie alle machen eine im wirklichen Sinn des Wortes „gute Figur“ auf der Bühne des Hessischen Landestheaters und bringen eine Authentizität in das Spiel, die gelegentlich Bühne und Wirklichkeit ununterscheidbar macht. Vielleicht nimmt gerade Radestocks Entscheidung, die Rollen der Jugendlichen im Stück gleichsam „eins zu eins“ mit „echten“ Jugendlichen zu besetzen, dem Text alles Unerträglich-Verstaubte und macht Wedekinds Frühlings Erwachen zu einem durch und durch heutigen Stück.

Herbert Fuchs



Marburger Neue Zeitung

Pubertät sorgt für Nöte
Premiere mit Wedekinds „Frühlings Erwachen“

Marburg (ans). Stolze Eltern, Familienmitglieder und Freunde der zehn Laiendarsteller, aber auch der Rest des Publikums haben am Ende der Premiere von „Frühlings Erwachen“ lebhaft applaudiert. Das von Frank Wedekind geschriebene Stück wurde von Peter Radestock inszeniert.

Die Jungen und Mädchen thematisieren gleich in den ersten Szenen ihr Eingeengtsein, durch das Elternhaus, die Schule, die strenge Trennung der Geschlechter. Es gehört sich nicht, Umgang mit dem anderen Geschlecht zu pflegen, so gibt es die Gesellschaft vor. Doch wird die Anziehungskraft immer stärker. Die Eltern jedoch versuchen, solche Regungen zu unterdrücken. So fertigt Frau Bergmann (Franziska Knetsch) ihrer Tochter Wendla (Sophia Heyrichs) einen längeren Rock an, der nicht mehr deren Knie preisgibt, Frau Gabor (Uta Eisold) empfiehlt ihrem Sohn Melchior (Johannes Grabowski) den „Faust“ erst zu lesen, wenn er reif dazu sei. Sie ahnt nicht, dass Melchior sich längst selbst mit Hilfe von Zeitschriften und Büchern selbst aufgeklärt hat und sein Wissen auch an den Freund Moritz Stiefel weitergibt. Das Stück schildert viele Konfliktsituationen der Pubertät: Die Jungen Ernst Robel (Simon Hönig) und Hänschen Rilow (Fabio Braun-Carrasco) entdecken ihre Homosexualität, während Melchior sich in Wendla verliebt und sogar mit ihr schläft. Moritz verzweifelt, weil er die notwendigen Prüfungen nicht besteht. Das Ganze endet in einem Eklat: Die schwangere Wendla stirbt bei dem Versuch ihrer Mutter, das Kind abzutreiben. Moritz sieht keinen Ausweg mehr aus seiner Misere und nimmt sich das Leben. Lediglich Melchior, den sein Vater in eine Erziehungsanstalt schicken möchte, entscheidet sich für das Weiterleben, als er auf dem Friedhof – zwischen den Gräbern seiner Freunde – das Schicksal akzeptiert und es auf sich nimmt.

Inszenierung eng am Original

Peter Radestock ist eine Inszenierung gelungen, die nicht vieler Requisiten bedarf. Das auf zwei Ebenen angelegte Bühnenbild, umfasst sechs leere Räume, die in unterschiedlichen Farben gehalten sind. Auf diese Weise gelingt es, verschiedene Handlungen voneinander abzugrenzen. Körpersprache und Dialoge genügen vollkommen, um in das Geschehen des Stückes eintauchen zu können. Das Publikum wird durch die Sprache, die sich an das Original von Wedekind hält, und durch die Kostüme ans Ende des 19. Jahrhunderts versetzt. Die Tatsache, dass die Hälfte des Ensembles aus mehr oder weniger unerfahrenen Schauspieler besteht, wird im Verlauf des Stückes zu keinem Zeitpunkt deutlich. Zum Vorschein kommt dies erst, als der tosende Applaus beginnt und die Schülerinnen und Schüler etwas verhaltener lächeln und sich verbeugen als es die „alten Hasen“ tun. Ein Aspekt, der ihnen noch mehr Sympathie seitens des Publikums eingebracht haben dürfte.



Gießener Allgemeine Zeitung

Die Brisanz des Themas will nicht mehr zünden
Profis und Laien auf der Bühne: Das Landestheater Marburg zeigt Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«

Die Idee drängt sich förmlich auf: Peter Radestock, der sich der Inszenierung von Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen« im Theater am Schwanhof angenommen hat, castete für die Rollen der Schüler 80 Bewerber, aus denen er zehn für seine Produktion auswählte. Allesamt Jugendliche, die schon bei Schultheateraufführungen Erfahrungen sammeln konnten. Denen gibt er nun zehn Schauspieler aus dem Marburger Landestheaterensemble an die Hand, die die (Gegen-)Welt der Erwachsenen einnehmen. Doch genau in dieser Paarung liegt die Gefahr: Die Laiendarsteller können gar nicht die Bühnenpräsenz der Vollprofis erreichen – und seien sie noch so talentiert. Dafür gibt es schließlich eine Ausbildung, bei der man auch den richtigen Umgang mit der Stimme lernt.

Besonders eklatant wird dieser Unterschied in der Rolle der Ilse sichtbar: ein gefallenes Mädchen, nur wenige Jahre älter als der Schüler Moritz Stiefel (Nick Sternitzke), den sie noch von früher kennt und an den sie sich bei einer zufälligen Begegnung Halt suchend klammert. Franziska Endres zeichnet ihren Part mit gekonnten Mitteln einer professionellen Schauspielerin ergreifend und lässt dabei tief in die Abgründe einer gescheiterten, verlorenen Seele blicken.

Überhaupt haftet dieser »Kindertragödie« etwas Altbackenes an, das durch die Kostüme von Eva-Constanze Neu (Knickerbocker mit karierten Kniestrümpfen und Schirmmütze für die Jungs, Zöpfe und adrette Kleider für die Mädels) noch unterstrichen wird. Dem Regisseur gelingt es nicht, den Staub des auslaufenden 19. Jahrhunderts aus dem Text herauszuklopfen. Es gibt inzwischen zeitgemäßere Bearbeitungen, wie die von Markus Orths, die vor vier Jahren am Stadttheater Gießen gezeigt wurde.

Auch das Bühnenbild von Radestock schafft eine zusätzliche Distanz: ein Guckkasten mit sechs pastellfarben gestrichenen Zellen, in denen alle Mitspieler allzu statuarisch wie ausgestellt agieren. Die Nöte der Pubertierenden, die mit schlechten Noten, ihrer Sexualität und dem Unverständnis von Eltern und Lehrern kämpfen müssen, zünden hier kein brisantes Feuer mehr, wie Wedekind es einst beabsichtigte, sondern wirken befremdlich, gar altertümlich.

Dabei ist die ungewollte Schwangerschaft wegen mangelnder sexueller Aufklärung – wie bei der 14-jährigen Wendla (Sophia Heyrichs), die mit Mitschüler Melchior (Johannes Grabowski) geschlafen hat – auch heute noch ein Dauerbrenner. Ebenso wie missglückte Abtreibungen, die zum Tode führen, und Selbstmorde von Schülern, die wie Moritz Stiefel am Leben verzweifeln, weil die Versetzung gefährdet ist.
Marion Schwarzmann



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